In der U-Bahn auf dem Weg zu ihr begegnete mir ein Obdachloser. Nicht ungewöhnlich für Berlin, klar, aber dieser hier hatte irgendwie etwas Besonderes an sich. Er wirkte wie ein durch das Leben auf der Straße rasant gealterter 35-jähriger Hipster mit seiner lässig tiefsitzenden Jogginghose, der markanten Brille und seinem rötlichen Bart. Ich weiß noch, wie ich darüber nachdachte, ob ich jemals schon mal einen obdachlosen Menschen mit Brille gesehen hatte und ob er seine, die teuer aussah, nachts in seinem Shirt versteckte, damit sie niemand stiehlt.
Er schien allgemein nicht der klassische Obdachlose zu sein, doch der Dreck an ihm und unter seinen Fingernägeln und der eindeutige Geruch nach Mensch bewiesen mir, dass er einer war. Und, was ist auch „der klassische Obdachlose“?
Sobald die Türen schlossen, sprang die Musikbox an, die an einem Gurt an seiner Hüfte baumelte. Während ein elektronischer Beat loslegte, sagte er noch ein paar Worte in Englisch. Manchmal sei das Leben hart und unerwartet, aber die Hauptsache sei, sich selbst und andere zu lieben und nicht aufzugeben. Vielleicht ist er Brite, dachte ich.
Dann schloss er die Augen - er kniff sie regelrecht zusammen, so als würde er böse Geister vertreiben wollen, die nachts unter seinem Bett hervorgekrochen kamen - und rappte zu dem Beat, der aus der Box sprudelte. Es war gut. Ja, es war wirklich gut und es löste etwas in mir aus.
Er faszinierte mich. Jemand, der scheinbar alles verloren hatte, jeglichen weltlichen Besitz und Lebensstandard, jemand, der in einer Gesellschaft des Zuviels und Konsums plötzlich nichts mehr besaß, außer dem, was er tragen konnte, verdiente mit seiner Stimme, mit seiner Kunst, Geld. Und er berührte auch die anderen in dem Waggon, denn mehr Menschen als üblich warfen etwas in seinen Becher, der vor seinen Füßen stand. Sein Text klang selbst geschrieben, ich verstand zwar nicht alles, weil schnell gerapptes Englisch, wenn wir ehrlich sind, fast wie eine andere Sprache ist, aber ich hörte heraus, dass er seine eigene Geschichte in diesen Song gewoben hatte. Er dankte jeder Person, die Geld spendete und setzte danach wieder zu einem Monolog an. Obwohl er hier predigt, man solle zuallererst sich selbst und dann andere lieben, wäre auch er noch auf dem Weg dahin, sich anzunehmen.
Er spielte den nächsten Song.
Als ich an der nächsten Station aussteigen musste, hatte ich gerade einmal fünf Minuten in seiner Gegenwart verbracht und war dennoch fasziniert.
Ja, auch das ist Berlin.
Leid und Dreck und Schmerz, aber auch Musik und Kunst und Mut und Stärke und sanftes Licht auf alten Fassaden.
Dieses Mal zog ich bereits vor dem Aufstieg in den fünften Stock meine Jacke aus. Unter dieser hatte sich nämlich eine kaum aushaltbare Hitze gestaut, da es der Berliner Luft bereits an ihren eiskalten Fingern mangelte, die in den Wintermonaten zwischen die Kleidungsschichten schlüpfen.
Trotz dessen, dass ich zuhause kurzzeitig überlegt hatte, doch nicht herzukommen, genoss ich es jetzt wieder sehr. Mit Bananenbrot und Tee setzten wir uns in die Küche. Scheinbar beide in unseren Gedanken verloren, zogen wir uns stück für stück gegenseitig aus ihnen heraus. Zumindest fühlte es sich für mich so an. Wir sprachen über den Lebensabschnitt, der für uns beide im letzten halben Jahr zu Ende gegangen ist, ihrer früher als meiner, meiner erst jetzt. Ohne die Würdigung von außen, ohne eine Kenntnisnahme der Institution, an der wir vier Jahre unseres Lebens verbracht hatten, versuchten wir uns diese Wertschätzung selbst zu geben. Wir verloren uns in Zukunftsplänen, in Träumereien und Fantasien und ich genoss es, dass ich scheinbar so selbstverständlich in ihren vorkam, wie sie in meinen. Liegt darin nicht das Wunderbare einer wahren Freundschaft? Die Entscheidung für den anderen oder die andere, so wie es auch bei romantischen Beziehungen üblich ist und die Gewissheit über diese Tatsache, dass man sich immer wieder aussucht, mit diesem Menschen das eigene Leben sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft zu teilen? Verbunden durch die gemeinsam geteilte Vergangenheit.
Für mich hatte dieser Abend wieder etwas Magisches an sich. Ein diffuses Leuchten in meinem Brustkorb, ein leichtes flatteriges Gefühl in meinem Kopf, so als hätte ein energischer Windzug den Nebel dort vertrieben. Ein Abend, der die Möglichkeiten und das vor uns weit ausgebreitet liegende Leben aufzeigte - wir, die wir durch viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede miteinander verbunden sind, bereit, lebensbejahend und dennoch immer wieder bewusst reflektierend, uns den Hindernissen in der Gewissheit stellend, dass die Menschen in unseren Leben uns tragen und wir sie tragen würden.
Das Treffen mit ihr bestätigte mir wieder einmal: glaube nicht die Geschichten, die dein Kopf dir erzählt, viele davon sind alt, nicht mehr zeitgemäß und trotz ihrer guten Absicht, verfehlen sie heute ihren Zweck. Nicht jeder Stimme musst du Glauben schenken, es gibt unter ihnen welche, die wie defekte Schallplatten seit Jahren dasselbe von sich geben, unabhängig davon, ob du selbst dich verändert hast. Und das hast du.
Auf meinem Heimweg, beschwingt von Zuversicht und Liebe und Dazugehörigkeit, tippe ich ein paar Zeilen in mein Handy, in dem Versuch das Gefühl in meiner Brust in Worte zu fassen. Und während ich in Gedanken und Empfindungen schwelge, wird mir klar, dass ich in der Gemeinsamkeit den Mut für Andersartigkeit finde.
“Und in der Gemeinsamkeit finde ich den Mut für Andersartigkeit.”
Ich habe mich schon vor einiger Zeit gefragt, wieso der Begriff und das Gefühl Liebe so einseitig bewertet werden. Wieso stellen wir dieses Gefühl in eine Hierarchie, an dessen oberster Stelle die Romantik thront? Werten wir dadurch nicht die anderen Formen der Liebe ab? Ist die freundschaftliche Liebe nicht genauso wertvoll und mächtig, da wir uns auch bewusst für sie entscheiden und sie uns meist sogar langfristiger und beständiger begleitet? Verdient sie nicht mindestens denselben Fokus wie die romantische Liebe, dieselbe Aufmerksamkeit und Wertschätzung, dieselbe Feierlichkeit durch Kunst, Musik und Fernsehen?
Ist es nicht so, dass wir davon ausgehen bei einer Beziehungsperson wirklich alles von uns zeigen zu müssen, zu wollen und zu dürfen? Ein Grund mag darin liegen, dass durch die unmittelbare Nähe, die Intensität dieser Beziehung, ein Zurückhalten von Gefühlen, alten Mustern und Problemen zu neuen Konflikten führen könnte. Doch was würde geschehen, wenn wir diese Annahmen, dieses ganz-oder-gar-nicht-Denken, auch auf Freundschaften übertragen würden?
Wenn wir den Menschen, mit denen wir, außer einer körperlichen Ebene, allesmögliche teilen, nicht auch an unserem wahren Selbst teilhaben lassen würden. Braucht das nicht nur Vertrauen, sondern auch Mut?
Und was passiert wohl, wenn wir diesen Schritt gehen?
Könnten wir dann nicht sogar eine noch wahrhaftigere und intensivere Freundschaft erleben, so wie wir dies auch im romantischen Sinn erfahren?
Nur weil eine Partnerschaft das über die Menschheitsgeschichte geprägte Ideal eines Zusammenlebens darstellt, heißt das doch nicht, dass andere Arten der Beziehung nicht genauso wertvoll sein dürfen und können. Würden wir eine Freundschaft und die Liebe, die wir zu diesem Menschen empfinden einmal unter derselben Brille betrachten, mit der wir unsere Liebesbeziehungen ansehen, wären dann nicht noch viel mehr Seiten an uns es wert, mit diesen Menschen geteilt zu werden?
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