Vor ein paar Tagen war ich laufen. Ich bin eine ähnliche Runde gelaufen wie die letzten Wochen, einmal rein in die Wuhlheide, immer geradeaus, dann links und einen Trampelpfad wieder zurück. Es ist schön zwischen Bäumen und Büschen, Gräsern und Vogelgezwitscher zu laufen. Mitzubekommen, wie der Frühling alle Pflanzen und Tiere zum Leben erweckt, wie die jungen Blätter aus den Knospen platzen, fast über Nacht, sobald es mal einen Tag richtig heiß ist - wie Popcorn, das sich aus den Maishülsen schält, manchmal meine ich sogar die Blätter aufplatzen zu hören, wenn ich leise genug bin.
Auf meinem Rückweg entschied ich mich, auf einem großen Erdwall zu laufen, auch dort wachsen Bäume und Gestrüpp und in ihrer Mitte verläuft ein Pfad, von dem man über die Wuhlheide blicken kann. Ich mag es, hierherzukommen und in die Weite schauen zu können, weil der Blick in der Stadt ja sonst immer so schnell am nächsten Gebäude abprallt. Seit ich eine Brille trage - zumindest manchmal – frage ich mich und halte es für sehr wahrscheinlich, ob meine Augen auch deswegen schlechter geworden sind -weil die kurzen Distanzen die Augen das Scharfsehen in der Ferne verlernen lassen. Wie der Bizeps, der kleiner und schwächer wird, wenn man ihn nicht trainiert.
Einfach vorbei (?)
Auf dem Erdwall ist man oft ganz allein, genau wie in der Wuhlheide ist hier vor allem unter der Woche nicht viel los. So war es auch an diesem Tag. Der Trampelpfad lag ruhig vor mir, der Himmel weit und offen über mir und ich spürte Gräser an den nackten Waden und den Wind im erhitzten Gesicht.
Als ich um die nächste Kurve bog, sah ich eine Bank vor mir, belagert von einer Gruppe Jugendlicher. Vier Jungs, vielleicht 16, die Arme auf die Knie gestützt oder auf der Rückenlehne der Bank ausgebreitet. Schon aus mehreren Metern Entfernung erkannte ich, wie einer von ihnen mich bemerkte und anschaute. Bereits da hoffte ich, mir keinen ätzenden Spruch anhören zu müssen, mein Körper war, wenn auch teils unbewusst, plötzlich angespannt. Einfach vorbei, spulte mein Kopf ab, wie so viele Male davor in meinem Leben. Ich fixierte den Jungen, der mich ansah und schaute ihm direkt in die Augen, da ich mir nicht mehr die Blöße geben wollte, den Blick einfach abzuwenden, wie ich es viel zu oft getan habe. Kopf runter, aushalten und weitergehen. Nein.
Er wendete sich daraufhin den anderen zu und flüsterte irgendetwas. Die zwei, die am Ende der Bank saßen, beugten sich nach vorne. Sie schauten mich an. Die Situation dauerte nur Sekunden und während ich an ihnen vorbeilief, tuschelten sie etwas und einer von ihnen rief mir „Viel Spaß noch!“ hinterher. Eine feixende Tonlage, belustigt und doch klang es wie eine Einladung. Bis ich außer Sichtweite war, fragte ich mich, ob sie mir wohl auf meinen mit Sicherheit im Rhythmus meiner Schritte wackelnden Hintern schauen würden. Doch ich drehte mich nicht um und vielleicht sahen sie nicht hin. Ich weiß es nicht, ich dachte es nur. Dennoch fühlte ich mich unwohl, nicht sicher und unangenehm exponiert. Jetzt frage ich mich, welchen Anteil an meinen Gefühlen meine eigene Bewertung und welchen das Verhalten der Jungs trägt.
Wenige Minuten vor dieser Situation traf ich einen Bekannten mit seinem Hund. Er wünschte mir im Vorbeilaufen ebenfalls viel Spaß und wir grüßten uns, doch dieser Moment war für mich etwas ganz anderes als die Situation mit den Jungs auf der Bank. Während ich meine Runde zu ende brachte, fragte ich mich wieder einmal, woran man erkennen soll, dass Verhalten sexistisch ist, wenn wir doch alle durch unsere eigene Brille schauen, mit unserem eigenen Filter, unseren eigenen wunden Punkten und Themen? Ich traute meiner eigenen Wahrnehmung nicht. Hatte ich das Ganze nur so empfunden, weil ich mich bereits vorher in eine Art Alarmbereitschaft versetzt hatte? Oder ging in ihren Köpfen wirklich das vor, was mir ihr Verhalten gespiegelt hat?
Sie haben augenscheinlich nichts falsch gemacht. Sie haben geschaut und mir viel Spaß gewünscht. Trotzdem habe ich mich unwohl und ihren Blicken ausgesetzt gefühlt. Meine Schritte wurden schneller, energischer, angetrieben von einem heißen Ärger in meinem Bauch und dieser Frage in meinem Kopf: Gaffen sie mich gerade an, während ich ihnen den Rücken zuwende?
Doch tue ich ihnen damit unrecht?
In Schubladen stopfen
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Freund am Küchentisch. Wir diskutierten über sexistisches Verhalten von Männern und er brachte mich dazu, zu hinterfragen, ob ich mit der Brille, die ich trage, nicht manchmal zu voreilig Verhalten auf eine gewisse Art interpretieren und diesem Menschen, ja, diesem Mann, einen Stempel aufdrücken würde. Ich fragte mich daraufhin zum ersten Mal, woran ich erkennen soll, ob Verhalten wirklich sexistisch ist?
Natürlich sind bestimmte Verhaltensweisen wie Grapschen oder sexistische Beleidigungen ganz offensichtlich sexistisch, aber es geht mir gerade um jenes Verhalten, das nicht so auffällig und offensichtlich falsch ist. Reichen mein Unwohlsein und meine Wahrnehmung der Situation aus, um darauf zu reagieren? Und wie hätte ich reagieren können?
Oder bin ich diejenige, die zu schnell verurteilt, zu voreilig jemanden in eine Schublade stopft, der mir dafür keinen Anlass gegeben hat, außer einem Blick oder einer bestimmten Tonlage?
Alles Interpretationssache, alles im Auge des Betrachters/der Betrachterin?
Starren, kommentieren, anfassen
Leider sorgen solche Situationen, in denen weibliche Körper angegafft, kommentiert oder ihnen hinterhergepfiffen wird dafür, dass die Alarmbereitschaft anspringt, sobald eine ähnliche eintritt. Egal, ob sich diese schließlich als sexistische Situation herausstellt oder nicht. Der Kopf versucht die Lage einzuschätzen und sie mit bereits vergangenen abzugleichen, in der Hoffnung, dass dem aufkommenden Gefühl der Nicht-Sicherheit ein Gefühl von Kontrolle entgegengesetzt werden kann. Ein Schutzmechanismus, ein erlernter und sozialisierter Reflex, der dafür sorgt, dass die potenziellen Opfer von sexualisierter Gewalt ihr Verhalten ändern (sich auf Bahnsteigen zu anderen Personen stellen, die beleuchtete Straße nehmen, statt die Dunkle, bestimmte Ecken meiden, …), die potenziellen Täter ihres hingegen nicht. Sie haben die Macht, sie entscheiden, wann und ob sie starren, kommentieren, anfassen, um uns wissen zu lassen, dass wir einen Körper haben, der angestarrt, kommentiert und angefasst werden kann. Das dies im Rahmen der Möglichkeiten liegt, dass es nicht passieren muss, aber passieren kann, weil es bei so vielen vor uns bereits passiert ist. Und weil wir körperlich unterlegen sind.
Konsequenzen, Omas und Glück
Und wie fühlt man sich, wenn der eigene Körper ungeniert betrachtet, dieser oder man selbst ungefragt kommentiert wird? - Bedrohlich exponiert und im Fall sprachloser Blicke sogar hilf- und machtlos, weil die Frage im Raum steht, ab wann es gerechtfertigt ist, etwas zu entgegnen und bis wohin Blicke “nur” Blicke sind.
Umso älter ich werde, umso mehr ich diese Welt zu begreifen versuche, mich mit Ungerechtigkeiten auseinandersetze und mir über diese Wissen aneigne, desto bewusster wird mir, dass mein weiblicher Körper im öffentlichen Raum ungestraft angestarrt und kommentiert werden kann. Dass “nur” Blicke keine Straftat sind, das das Gefühl von nicht-sicher-sein im öffentlichen Raum, die Angst vor Belästigungen in einem Waggon, in dem sich nur Männer befinden für diese keine Konsequenzen, für mich aber schon hat.
Wie oft warnte mich meine Oma als Kind davor, nachts allein unterwegs zu sein? Wie oft erzählte sie mir von Nachrichten, die von Mädchen, die vergewaltigt und ermordet wurden, berichteten, um mir den Ernst der Lage einzuschärfen? Heute weiß ich, dass es sich dabei um einen Ausdruck ihres eigenen Traumas und ihrer eigenen Angst handelte, die sie aber an mich ungewollt weitergab. Wie oft höre ich Geschichten von Freundinnen und wie oft fühle ich mich unwohl und nicht sicher in der Bahn, in einer beliebigen Straße, am helllichten Tag? Wie oft spüre ich Wut deswegen und weiß nicht wohin mit ihr?
Es hat viel mit Glück zu tun: Welche Art Mensch setzt sich in der Bahn neben mich, bin ich zur falschen Zeit am falschen Ort? Doch die Möglichkeit, dass etwas passieren kann, lauert in mir, in Form von Bildern in meinem Kopf, von Erfahrungen von anderen in meiner Erinnerung, von Gelesenem in meinem Unterbewusstsein.
Natürlich kann man sich wehren und natürlich gibt es auch Menschen, die aufmerksam sind und hilfsbereit. Und trotzdem denke ich, dass allein das Bewusstsein über diese beängstigenden Möglichkeiten ausreicht, um aufzuzeigen, wie falsch das alles ist. Wie nicht-sicher würde ich mich erst fühlen, wenn so eine Möglichkeit wirklich einträte? Wie nicht-sicher müssen sich andere bereits fühlen? Und wie stark sind sie, ohne, dass man es von außen sieht, dass sie trotzdem die Stimme erheben, nicht klein beigeben, keinen Umweg gehen, sondern dort gehen wo sie nun einmal sein wollen.
Nun mag bei manch einem oder einer der Gedanke entstehen: Vielleicht solltest Du lernen wie man sich selbst verteidigt und eine Kampfkunst erlernen? Dann würdest du dich sicherer fühlen, könntest besser auf deine eigene Kraft vertrauen. - Jein. Ist es die Lösung, dass Mädchen und Frauen gesagt wird, sie sollen doch lernen zu kämpfen, um sich sicherer zu fühlen? Ist es die Lösung mit Plakaten für spezielle Selbstverteidigungskurse für Frauen zu werben, damit wieder Frauen die Konsequenzen dieser Welt tragen, wieder Frauen eine Verantwortung übernehmen müssen, die gar nicht ihre ist? - Meine Antwort lautet: nein. In Einzelfällen mag es wirklich sinnvoll und stärkend sein, aber als allgemeine Lösung müssen doch die potenziellen Täter in die Verantwortung gezogen werden! Sie müssen verstehen, dass dieses Verhalten nicht okay ist, sie müssen die Konsequenzen tragen, sie müssen dafür sensibilisiert und aufgeklärt und gebildet werden, bevor eben jene Situationen auftreten. Und im besten Fall müssen sie dieses Wissen auch verbreiten und gegen andere Männer aufstehen und für Frauen eintreten.
Ich habe auf viele meiner Fragen noch keine Antworten gefunden. Und auch wenn ich einerseits niemandem Unrecht tun möchte, möchte ich andererseits auch kein Verhalten abtun und ignorieren, das unweigerlich immer weitergelebt wird, wenn sich niemand dagegen wehrt. Wir müssen uns die Macht zurückholen, dürfen nicht wegschauen, sondern müssen Blicken standhalten und aufstehen, wir alle -egal welchen Geschlechts- wenn sich andere aufgrund des Verhaltens Dritter unwohl fühlen. Wenn ich in kurzen Sportsachen laufen gehe, dann bin ich eine Läuferin und nichts anderes. Keine Projektionsfläche für pubertäre Fantasien, keine seltene Spezies, die kommentiert werden muss, kein weiblicher Körper, der angegafft werden darf. Das gilt nicht nur für weibliche, sondern auch für männliche Körper.
Kontext, Kontext, Kontext
Aber was heißt das jetzt für all jene Jungs und Männer, in deren Horizont solche Verhaltensweisen sehr weit entfernt sind und die vielleicht zu schnell und zu radikal in Schubladen gestopft werden, in die sie eigentlich nicht gehören?
“Darf man jetzt nicht mal mehr gucken, oder was?”, ein absurder, unerhörter und kindischer Spruch, der oft getarnt als Gegenargument daherkommt und für mich häufig Ausdruck einer Überforderung und eines Unverständnisses der eigentlichen Botschaft ist. Gucken ist nicht gleich gucken. Respekt macht den Unterschied. Die dahintersteckende Motivation macht den Unterschied. Empathie macht den Unterschied. Und dennoch verstehe ich den Konflikt, den manche möglicherweise in sich tragen und den ich auch auf eine andere Art in Situationen wie der hier Beschriebenen ausfechte. Weil wir die Welt alle durch unsere eigene Brille wahrnehmen, fühlt sich eine Frau durch eine nur nett gemeinte Verhaltensweise (z.B. “Viel Spaß noch.”) unwohl. Vielleicht hat sie bereits andere solcher Situationen erlebt, wurde mit Übergrifflichkeiten oder Belästigungen konfrontiert, vielleicht beschäftigt sie sich viel mit diesen Themen und hat dementsprechend einen viel feineren Radar entwickelt als andere. Aber genau wie ich meine Verantwortung darin sehe, nicht jeden Mann gleich als Sexisten abzustempeln und zu reflektieren was passiert ist, liegt es in der Verantwortung von Männern, zu reflektieren, wie das eigene Verhalten aufgefasst werden könnte. Vor allem, weil wir nun einmal in einer Welt leben, in der der weibliche Körper über Jahrhunderte hinweg sexualisiert und objektifiziert wurde und wird. Und ich denke dafür ist es wichtig, dass verstanden wird, wie sich Frauen und weibliche Körper häufig im öffentlichen Raum fühlen. Dass allein die Möglichkeit, dass etwas passieren kann, Angst, Unwohlsein und Gefühle wie Machtlosigkeit auslöst. Und dass es eben einfach einen Unterschied macht, ob jemand mit einem männlichen oder einem weiblichen Körper im öffentlichen Raum unterwegs ist. (Natürlich können sich auch Männer und männliche Körper nicht-sicher fühlen und Belästigungen erfahren, dennoch sehe ich den Unterschied im strukturellen Aspekt.)
Gucken ist nicht gleich gucken.
Mir scheint der Kontext entscheidend zu sein. Die Beziehung zwischen den an der Situation beteiligten Personen, die Tonlage des Gesagten, worauf sich die Blicke richten, ob eine Gruppe oder eine einzelne Person einer anderen gegenüber steht. Das “Viel Spaß noch” meines Bekannten habe ich keineswegs als problematisch, sondern als nett empfunden. Das “Viel Spaß noch” der Jugendlichen und ihre Blicke und Tuschelein hingegen schon. Das mag daran liegen, dass ich sie nicht kannte, sie in einer Gruppe waren und ihre Blicke eine Art und Weise an sich hatten, die mein Unterbewusstsein mit Sicherheit schon häufiger erlebt hat. Es kann zusätzlich natürlich auch an der Alarmbereitschaft liegen, in die ich verfallen bin. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich diese Situation immer noch reflektiere und über mein Verhalten nachdenke und diese Jungs wahrscheinlich nach zwei Minuten wieder vergessen haben, dass ich überhaupt dort vorbeigelaufen bin. Nun erwarte ich von 16-Jährigen gar nicht die Reife dies zu tun, von Erwachsenen jedoch schon. Von ihnen erwarte ich, zu hinterfragen, wie das eigene Verhalten auf andere wirkt, vor allem in dieser Zeit, in der bereits eine größere Sensibilisierung für sexistisches Verhalten erreicht werden konnte. Ich erwarte, dass überlegt wird, wie sich die eigene Tochter, die Nichte, die eigene Frau, Freundin, Schwester oder befreundete Arbeitskollegin fühlen würde, wenn sie an der Stelle der Frau auf der Straße wäre. Ich erwarte Respekt und Empathie. Ich erwarte Menschlichkeit. Und ich denke, dass das nicht zu viel verlangt ist.
Wie stehst Du zu diesem Thema? Wie reagierst Du in solchen Situationen? Gibt es Verhaltensweisen, die Dir helfen?
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Der Text ist sehr gut geworden 👌✌️
Guten Morgen, Charly. Dein Newsletter-Text war heute morgen der erste in meinem Postfach, und ich las ihn mit einem Grummeln im Bauch. Nicht wegen deiner Worte, sondern wegen der schlichten Tatsache, dass es für Frauen so viele Gedanken um diese Thematik braucht, was zeigt: Unsere Gesellschaft ist immer noch zutiefst sexistisch. Erst wenn es möglich ist, als Frau an vier jungen Männern vorbeizulaufen und nicht so zu fühlen, wie du gefühlt hast, haben wir das überwunden. Ich habe gleich meine morgendliche Schreibsession. Vielleicht ist dies ja das Thema, über das ich heute schreibe. Danke dafür!